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zur Chronik
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Text des Monats
Harmonie - Ausgeglichenheit -
Balance - Hoffnung
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Die unsichtbaren Wegbegleiter haben ihre Irritationen.
Aplaudido, der Seiltänzer sitzt in der U49 und denkt an
seinen Auftritt.
Er ist nicht konzentriert, jedoch aufgeregt und
verunsichert. - Schweißausbrüche - Die Angst breitet sich
aus. - Gedankenkarussell: Ständige Höhenflüge, das
Rampenlicht und der Applaus, das sind angenehme Dinge. Jetzt
die Verwandlung. Sein Mut wird ersetzt durch panische Angst.
Abstürzen, zu Versagen, keine Lust mehr auf Erfolg. Spielte
er mit dem Leben oder spielte das Leben mit ihm. Kann er
noch die Balance halten? Es geht ja nur von A nach B. Bisher
hatte er es geschafft. Er hatte bisher nie Zweifel, er war
sich seiner sicher gewesen. Jetzt aber nicht mehr.
Zwei unsichtbare Gestalten sitzen an seiner Seite, an seiner
Linken die Hoffnung, zur Rechten die Harmonie und ihre
kleine Schwester, die Ausgeglichenheit. Die Balance sucht
noch nach ihrem Platz.
Die Hoffnung, die Schwarzfahrerin, ist sich ganz sicher, am
frühen Morgen ist keine Kontrolle. Doch sie hatte sich
geirrt. Der Kontrolleur wollte alle Fahrausweise sehen. Sie
bedauert sich selbst. Sie ist sich selbst entrückt und ist
froh, dass sie unsichtbar ist. Sie ist untröstlich.
Die Harmonie ist in ihrem Frieden gestört. Die äußeren
Bedingungen sind mit ihrem Inneren nicht im Einklang.
Hektik: Laute Geräuschkulisse, die Bahn ist überfüllt. Die
Menschen sind dicht aneinander gepresst. Jegliche Grenze,
die der Mensch braucht, wird hier überschritten. Kein
freundliches Lächeln. Die Menschen wirken genervt und die
Spannungen breiten sich in der Bahn aus. Gezeter, Streit und
Käbbeleien unter den Schülern, Handy bimmelt, die Menschen
simsen, unangenehme Gerüche, kalter Rauch,
Alkoholüberflutung von Bierflaschen und es riecht nach
Angstschweiß. Die Harmonie ist in ihrer Harmonie gestört und
ihr ist speiübel.
Die Balance ist zweigeteilt. Sie fühlt sich an diesem Ort
nur deplatziert, zerrissen und fühlt sich nur noch
beschissen. Ihre Lage ist aussichtslos.
Der Seiltänzer fängt schwer an zu atmen. Seine unsichtbaren
Wegbegleiter haben sein inneres Gleichgewicht gestört. Er
hatte noch nie Zweifel. Diese Gedanken kann er jetzt nicht
gebrauchen.
Er denkt nach. Seine Strecke geht von A nach B.
Konzentration und Achtsamkeit auf dem Seil, sich nicht
ablenken lassen, leichte sachte Schwingungen halten ihn in
Bewegung und er bleibt im Gleichgewicht, sich selbst spüren
und vertrauen. Er ist sich seiner wieder sicher. Ich kann
es. Ich werde es mit Bravur bewältigen. Es ist nur ein Seil,
ich hebe ab von der Erde, ich befinde mich in einem
Trancezustand. Das Leben bietet mehr Hindernisse, Dinge die
der Mensch nicht beeinflussen kann, aber ich habe einen
überschaubaren Rahmen und ich weiß um mein Können.
Er tänzelt gelassen durch die Menschenmenge und steigt aus.
Wie bei jedem Auftritt applaudiert sein Publikum, wie eine
Elfe läuft er über das Seil.
Heute ist sein letzter Auftritt. Er kann seinem Publikum
nicht mehr geben. Sie wollen zu viel von ihm. Noch fühlt er
sich, wie auf einer Himmelsleiter. Er hat keine Lust die
Todesleiter zu erklimmen.
(Heidemarie Waldstädt)
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