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zur Chronik
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Text des Monats
Kleine Schwester des Glücks
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"Ich möchte die Liebe kennen lernen", sagte das Schneeglöckchen zu der Krokusblüte,
die dicht neben ihm am Rande der großen Parkwiese stand.
Die beiden Blümchen hatten fast gleichzeitig ihre Blütenköpfe geöffnet und, wie es
scheint, im gleichen Augenblick das Licht der Sonne erblickt. Deshalb fühlten sie sich -
irgendwie - zusammen gehörend.
"Liebe?", fragte die Krokusblüte. "Was ist Liebe?"
"Etwas Schönes. Etwas Wunderbares ist Liebe", antwortete das Schneeglöckchen. Sein
Stimmchen klang verträumt und sein Schneeglöckchen-Glöckchen sandte eine leise
Musik in den sonnigen Spätwintertag.
Bing. Bing. "Liebe ist das Schönste und Beste, was
uns im Leben begegnen kann."
Die Krokusblüte staunte. Wie klug sie doch war, die neue Freundin, die sie gestern
kennen lernen durfte. Wie klug. Und wie hübsch! Und ihre Musik! Wie wundervoll sie
doch klang!
"Woher weißt du das? Du bist doch nur wenige Atemzüge länger als ich auf dieser Welt",
fragte sie das Schneeglöckchen, das seine Blüte den wärmenden Strahlen der Sonne
entgegen reckte. "Wie kannst du so viel wissen?"
"Ich lausche", antwortet das Schneeglöckchen. "Ich lausche den Stimmen der Bäume
und der Vögel, ich sehe das Spiel der Wolken mit den Strahlen der Sonne, ich atme die
Süße der Erde und die Frische des Schnees. Und ich höre die Worte der Menschen, die
uns hier besuchen. Sie erzählen von der Liebe."
"Liebe! Was ist Liebe?", fragte die Krokusblüte wieder.
"Ich glaube", antwortete das Schneeglöckchen, "die Liebe ist die Schwester des Glücks."
"Du bist meine Schwester", sagte da die Krokusblüte. "Und du bist mein Glück."
"Ich ... bin ... dein ... Glück?" Das Schneeglöckchen stutzte, dann strahlte es und sein
Glöckchen sang ein fröhliches Lied. "Dann bist du meine Liebe."
Es machte eine kleine Pause, dann sagte es mit einem Seufzer: "Wir müssen die Liebe
nicht mehr suchen. Sie ist bereits da. Wie gut wir es doch haben!"
Die Krokusblüte nickte. Dann schwiegen die Blümchen wieder. Es galt so viel zu
entdecken rings um die Wiese an diesem späten Wintertag.
(Elke Bräunling)
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